Wenn Sinnsuche zur Angriffsfläche wird: Über Narrative, Verantwortung und Markenarbeit
Es gibt Themen, die mich als Marken- und Kommunikationsstrategin beschäftigen, obwohl sie auf den ersten Blick nichts mit „Branding“ zu tun haben: Weltbilder, Sinnsuche, Narrative und die Frage, warum bestimmte Botschaften Menschen so stark anziehen.
Doch wer mit Marken arbeitet, arbeitet immer auch mit Menschen: mit Bedürfnissen, Unsicherheiten, Sehnsucht nach Orientierung, Zugehörigkeit und Bedeutung.
Vielleicht schaue ich deshalb besonders genau hin. Seit Jahren arbeite ich auch in der politischen Kommunikation, oft mit marginalisierten Gruppen, die um Sprache, Sichtbarkeit und Schutz ringen. Und mit meiner eigenen Migrationsbiografie habe ich früh gelernt, wie stark Sprache Zugehörigkeit herstellen – oder entziehen – kann. Diese Sensibilität begleitet mich in jede Analyse.
Marken entstehen schließlich nicht im luftleeren Raum. Sie bewegen sich in einer Welt, die sich schneller verändert, als viele wahrhaben wollen. Wer Narrative entwickelt, muss verstehen, welche Strömungen im Hintergrund wirken, welche Bedürfnisse Menschen antreiben und welche Anschlussstellen problematische Bewegungen nutzen.
Deshalb berühren mich die Schnittstellen zwischen Esoterik, Coaching-Bubbles, Naturromantik und Freiheitsnarrativen. Und deshalb hat mich eine Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung letzte Woche so bewegt.
Dr. Judith Bodendörfer (Ev. Zentrale für Weltanschauungsfragen) zeigte dort, wo sich Esoterik, Religiosität, Selbstoptimierung und antidemokratische Haltungen berühren – kein Randthema, sondern ein Blick auf Mechanismen, die weit in die Mitte der Gesellschaft reichen.
Viele dieser Muster begegnen mir auch in der Markenarbeit. Nicht in derselben Ausprägung, aber in derselben psychologischen Grundlogik.
Menschen sind auf der Suche – und genau das macht sie ansprechbar
Sinn, Halt, Orientierung, Zugehörigkeit: Das sind Grundbedürfnisse, keine Schwächen.
Wenn Menschen sich Gruppen, Bewegungen oder Narrativen zuordnen, hat das selten mit Naivität zu tun. Es geht um Sicherheit, Erklärbarkeit, Selbstwirksamkeit. Und um das Gefühl, gesehen zu werden.
Psychologisch wirken dabei u. a.:
Mustersuche: Das Gehirn will Ordnung, auch da, wo Chaos ist.
Komplexitätsreduktion: Klare Antworten fühlen sich wahrer an als widersprüchliche.
Gruppendynamik: Zugehörigkeit erzeugt Bindung – unabhängig vom Wahrheitsgehalt.
SCARF-Faktoren: Status, Sicherheit, Autonomie, Verbundenheit, Fairness.
Viele Menschen suchen keine Theorie – sie suchen Orientierung. Und das macht Erzählungen attraktiv, die Struktur geben und eine Welt anbieten, die wieder fassbar erscheint.
Problematisch wird es erst dort, wo diese Sinnsuche vereinnahmt wird: wo Deutungen nicht mehr hinterfragt werden dürfen, wo Abweichung sanktioniert wird, wo Erfahrung über Kontext gestellt wird.
Dann verschiebt sich Wahrnehmung – nicht plötzlich, sondern schleichend.
Warum bestimmte Coaching- und Freiheitsnarrative so wirkmächtig sind
Ich meine nicht Coaching als Profession. Ich meine Bewegungen, die Hallen füllen, Freiheitsversprechen verkaufen und einfache Antworten auf komplexe Krisen liefern.
Wiederkehrende Elemente sind z. B.:
das „Higher Self“ als moralisches Ideal
Wohlstands-, Heilungs- und Entfaltungsversprechen
Selbstverantwortung als Pflicht
Abgrenzung vom „System“
Natur als moralischer Marker („natürlich = gut“)
Für viele Menschen sind das nachvollziehbare Haltanker. Herausfordernd wird es dort, wo diese Narrative eng werden:
Zweifel gelten als Blockade
Schmerz als „niedrige Energie“
Kritik als schlechtes Mindset
strukturelle Barrieren werden individualisiert
So entstehen Weltbilder, die Sicherheit geben – aber gleichzeitig verengen.
Psychologische Muster, die in vielen Kontexten wirken
Das Entscheidende: Diese Mechanismen sind nicht exklusiv für Esoterik oder bestimmte Coaching-Szenen. Sie sind universelle Kommunikationsmechanismen, wie man sie aus PR, politischer Kommunikation, Massenpsychologie und Markenentwicklung kennt.
Immer wieder tauchen auf:
moralische Aufladung („das Reine“, „das Erwachte“, „das Natürliche“)
Feindbilder („die da oben“, „das System“, „die Unbewussten“)
Dualismen (rein/dirty, bewusst/unbewusst, natürlich/künstlich)
Selbstüberhöhung („wir haben verstanden, andere nicht“)
Zugehörigkeit über Anpassung („du gehörst dazu, solange du das Narrativ trägst“)
Diese Muster sind psychologisch wirkmächtig, weil sie Halt und Zugehörigkeit versprechen – gleichzeitig aber subtil ausgrenzen. Darin liegen Chancen und Risiken.
Nicht alles ist extrem – aber vieles hat Anschlussstellen
Die meisten Menschen in diesen Räumen sind nicht extrem. Sie suchen Orientierung, Entlastung und Zugehörigkeit – wie wir alle. Problematisch wird es dort, wo:
Komplexität verloren geht
Kritik keinen Raum hat
Weltbilder in richtig/falsch kippen
Erfahrungen anderer unsichtbar werden
Gruppenlogiken enger werden
Genau an diesen Stellen öffnen sich Räume, in denen radikalisierende Deutungen andocken können – oft unbemerkt. Denn der Einstieg in solche Dynamiken beginnt selten mit einer Ideologie. Er beginnt mit einem Bedürfnis: nach Halt, Erklärbarkeit, Zugehörigkeit, Bedeutsamkeit.
Erst später – wenn eine Gruppe bereits emotional Sicherheit bietet und vertraute Deutungsmuster etabliert sind – beginnt die Ideologie, die Sinnsuche zu strukturieren. Nicht als bewusste Überzeugung, sondern als Interpretationsrahmen, der Schritt für Schritt plausibel erscheint.
So entsteht kein plötzlicher Gesinnungswechsel. Sondern eine schleichende Verschiebung von Wahrnehmungs- und Bewertungsrastern. Und genau hier wird die Relevanz sichtbar – nicht nur für politische Bildung, sondern auch für jede Form von Kommunikation.
Was das alles mit Markenarbeit zu tun hat
Alles.
Markenkommunikation bewegt sich in derselben gesellschaftlichen und psychologischen Landschaft wie Esoterik, Coaching-Szenen oder politische Bewegungen. Sie spricht dieselben Grundbedürfnisse an: Orientierung, Verständnis, Bedeutung, Zugehörigkeit.
Die Frage ist nicht, ob diese Mechanismen wirken. Sondern wie wir mit ihnen umgehen.
Deshalb bedeutet wertebasierte Markenarbeit für mich:
Narrative so zu gestalten, dass sie verbinden, nicht spalten
Menschen ernst zu nehmen, statt sie in Schablonen zu pressen
Orientierung zu geben, ohne zu manipulieren
Räume zu öffnen, in denen Menschen wachsen können – ohne Abwertung anderer
Komplexität nicht zu glätten, nur weil sie leichter verkaufbar ist
Marken sind mächtig. Sie können Blickwinkel erweitern – oder einengen. Sie können Menschen stärken – oder kleinhalten. Sie können Vielfalt ermöglichen – oder Ausschluss reproduzieren. Genau deshalb sollten wir Kommunikation nicht nur als Hebel, sondern als Gestaltungsmacht verstehen. Sie entscheidet mit darüber, welche Narrative stärker werden – und welche leiser.
Je bewusster wir damit umgehen, desto eher gestalten wir Marken, die Orientierung geben, ohne zu vereinnahmen, und Wirkung entfalten, ohne Menschen zu verlieren.